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Raub-Prozess um eine Flasche Cola im Wert von 99 Cent vor dem Uelzener Schöffengericht

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Von: Lars Becker

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Eine Coca-Cola-Glasflasche
Um eine Glasflasche Cola im Wert von 99 Cent geht es in einem Prozess wegen Raubes am Uelzener Schöffengericht. © DPA

 Einer der ungewöhnlichsten Fälle der vergangenen Jahre wurde jetzt vor dem Uelzener Schöffengericht verhandelt. Ausgangangspunkt des Prozesses ist ein entwendetes Softgetränk – eine Cola-Flasche im Wert von 99 Cent. 

Uelzen - „Ich verhandele ja schon ein paar Jahre. Aber dieser Fall gehört zu den ungewöhnlichsten.“ Das sagt Rainer Thomsen. Der stellvertretende Direktor des Amtsgerichts Uelzen sitzt am Mittwochvormittag dem Schöffengericht als Vorsitzender vor – und hat soeben einer obdachlosen 63-Jährigen wegen eines minderschweren Raub-Deliktes eine sechsmonatige Haftstrafe auf Bewährung verkündet. Das ist die Mindeststrafe, die das Gesetz vorsieht. Das Urteil ist bereits rechtskräftig.


Die Frau hatte Mitte Februar 2021 in einem Suderburger Getränkemarkt trotz gerade erst verhängten Hausverbotes eine Flasche Cola im Wert von 99 Cent an sich genommen und den Laden verlassen, ohne zu bezahlen. Weil sie einer Angestellten drohte, sie zu treten, falls sie angefasst werde, wird die Tat als Raub abgeurteilt. „Das ist ja ein Witz hier – ich gehe doch nicht wegen einer Flasche Cola für einen Euro ins Gefängnis“, sagt die Angeklagte in ihrem letzten Wort.

Zunächst glaubt sie später sogar, tatsächlich in Haft zu müssen – erst nach und nach wird ihr klar, dass sie auf freiem Fuß bleiben darf, sich aber die nächsten zwei Jahre straffrei führen muss.

Der Blick ins Vorstrafenregister macht klar, dass das schwierig werden könnte: In ihrer Not nächtigt die polizeibekannte Frau im Winter in den Vorräumen von Bankfilialen. Wiederholt ist sie deswegen wegen Hausfriedensbruchs verurteilt worden. Richter Thomsen spricht davon, dass sich die gelernte Sekretärin, die auch schon als Immobilienmaklerin gearbeitet hat und nun seit über zehn Jahren von einer kleinen Rente leben muss, in einer „schwierigen persönlichen Situation“ befindet.

In Suderburg hat man ihr Hilfe angeboten. Ihr wurde eine Unterkunft in der alten Böddenstedter Dorfschule zugewiesen, sie bekam umfangreiche Kleiderspenden. Im Januar 2021 berichtete die AZ über das Schicksal der Frührentnerin, die aus Weinheim bei Heidelberg stammt. Wie ein Polizist der Station Suderburg aussagt, läuft die Situation aber rasch aus dem Ruder. In kurzer Zeit ist die Wohnung vermüllt. Der sozialpsychiatrische Dienst wird eingeschaltet – alles vergebens.

Die 63-Jährige ist geschieden und kinderlos. Soziale Kontakte hat sie kaum. Sie schiebt ihr Hab und Gut in einem blauen Trolley mit vier Rollen vor sich her. Gemeldet ist sie in Lüneburg in einer Einrichtung der Diakonie. Dorthin geht Post. Eine feste Bleibe aber hat sie nicht.


Sie sitzt in dreckigen Klamotten und pantoffelartigen Schuhen aus Kunststoff im Gerichtssaal, versteckt ihren kahlen Kopf unter einer Kapuze. Von ihrer Pflichtverteidigerin will sie nichts wissen: „Ich verteidige mich selbst! Ich bin doch kein Verbrecher!“ Immerhin kann Rainer Thomsen sie mit viel Einfühlungsvermögen dazu bewegen, sich auf die Anklagebank zu setzen. Aber alle Vorwürfe seien „total gelogen“. Sie sei von der Angestellten des Marktes „wie wild“ auf den Arm geschlagen und auch getreten worden. Dabei habe sie doch die Cola bezahlen wollen.

Die Zeugen – der Marktleiter und zwei Mitarbeiterinnen des Getränkemarktes – sagen etwas anders aus. Die Situation schaukelt sich demnach hoch: Es wird laut. Die Frau will den Laden verlassen – mit der Cola. Die Angestellten wollen sie aufhalten – ohne Cola. Erst die Polizei sorgt für Ruhe.

„Aufgeregt waren wir alle“, sagt die ältere Mitarbeiterin. Das vierwöchige Hausverbot hatte die Obdachlose kassiert, weil sie Kunden angebettelt, keine Corona-Maske aufgesetzt und im Eingangsbereich einen Döner gegessen hatte. „Ich musste ja was machen“, sagt der Marktleiter im Prozess. Ihm und seinen Angestellten ist anzumerken, dass ihnen die Frau eigentlich leidtut. Das erkennt auch Richter Thomsen.

Er ermutigt die 63-Jährige dazu, sich für die Nächte einen Schlafplatz zu suchen – und findet mit den beiden Schöffen im Urteil quasi einen Kompromiss zu den Forderungen von Staatsanwältin und Pflichtverteidigerin: Die Vertreterin der Anklage fordert vor allem wegen einer negativen Sozialprognose eine sechsmonatige Gefängnisstrafe ohne Bewährung, die leidenschaftlich für die Frau kämpfende Rechtsanwältin einen Freispruch.

Zwischen den Plädoyers und der Urteilsverkündung liegt eine 20-minütige Pause. Die verbringt die Frau vor dem Gerichtsgebäude kauernd neben ihrem blauen Trolley. Und trinkt dabei eine Flasche Cola. Später will sie noch in Uelzen einkaufen und dann mit dem Zug nach Lüneburg. „Aber bitte mit Ticket“, schallt es ihr von allen Prozessbeteiligten nach einem tatsächlich ungewöhnlichen Prozess unisono entgegen...

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