Richterin Dr. Claudia Hagemann rannte sofort aus dem Saal und alarmierte die Wachtmeisterei, aus der wiederum der Rettungsdienst gerufen wurde. Minutenschnell waren Sanitäter im Gericht und konnten den Zustand des Mannes stabilisieren, der ganz zu Beginn des zweiten Prozesstages auf ausdrückliche Nachfrage der Richterin noch bekundet hatte, gesundheitlich so weit auf der Höhe zu sein, dass er der Verhandlung – wie beim Auftakt vor einer Woche – folgen könne.
Die wurde vertagt, wobei selbst erfahrene Prozessbeteiligte betonten, solche Szenen zum Glück in Jahrzehnten noch nicht miterlebt zu haben. Auch für die Eltern des laut Anklage am 26. Juli 2020 missbrauchten Jungen, die als Nebenkläger auftreten, verlängert sich damit die ohnehin schon belastende Prozessdauer weiter.
Eine Erklärung – beispielsweise in Form eines Geständnisses – wurde auch am Donnerstag seitens des Angeklagten und seines Verteidigers zu Beginn nicht abgegeben, sodass die Beweisaufnahme in dem Verfahren mit zwei Zeugen beendet wurde. Zunächst vernahm das Gericht die inzwischen ebenfalls pensionierte Polizeibeamtin, die am Tag des mutmaßlichen Missbrauchs den damals Siebenjährigen, dessen älteren Bruder und die Mutter vernommen hatte. Daran schloss sich die besagte Vernehmung jenes Kriminalbeamten an, der den Angeklagten damals mit dem Tatvorwurf konfrontiert hatte.
„Der Junge hat am Anfang ganz offen gesagt, wie er heißt und wo er zur Schule geht. Beim Sachverhalt selbst hat er sehr viel nach unten geschaut – es fiel ihm schwer, darüber zu reden. Der ältere Bruder war sehr aufgeregt, die Eltern aufgebracht und natürlich auch verängstigt“, schilderte die ehemalige Polizeibeamtin ihre Eindrücke von vor Ort am Tattag.
Anhaltspunkte dafür, dass sich der Junge womöglich eine Geschichte ausgedacht hatte, hatte sie nicht. „Die Aussage klingt korrekt, das muss so gewesen sein“, hatte sie nachts auf der Dienststelle in Uelzen im ersten Austausch dem Kriminalbeamten gesagt, der sich um den Angeklagten kümmerte.
Und der zeichnete kein gutes Bild von dem 57-Jährigen, der am ersten Prozesstag betont hatte, kein Alkoholiker zu sein. „Er machte in einem T-Shirt, das ich nicht einmal zum Arbeiten anziehen würde, in Badelatschen und Jogginghose insgesamt einen verwahrlosten Eindruck. Er war erst mürrisch, schroff und abweisend, später aber dann doch kooperativ. Wenn jemand mit einem Atemalkoholwert von 2,8 Promille noch so stehen und sich artikulieren kann, dann steht Alkoholgewähnung zumindest im Raume“, sagte der Beamte aus seiner langen Diensterfahrung heraus.
Er berichtete sogar, dass der Mann nachts in der Gewahrsamszelle regelmäßig 50 Milliliter harten Alkohol „nachgeführt“ bekommen hatte. „Er hat uns gesagt: ,Damit ich nicht zum Notfall werde‘. Es galt für uns zu vermeiden, dass der Mann uns abrutscht“, schilderte der ehemalige Kriminalbeamte.
Sämtliche Tatvorwürfe habe der Mann jedoch bestritten – sowohl bei der vorläufigen Festnahme zu Hause als auch bei der Vernehmung auf der Wache. Trotz massiver Alkoholisierung habe er verstanden, was ihm vorgeworfen worden sei.