Um nicht missverstanden zu werden: Die Leistung von Stéphanie Frappart war gut – unaufgeregt, immer effektiv zur Stelle, wenn es drauf ankam – als hätte die am 14. Dezember 1983 in Le Plessis-Bouchard (etwa 20 Kilometer nördlich von Paris) geborene FIFA-Schiedsrichterin zuvor bereits drei bis acht Männer-Weltmeisterschaften gepfiffen. Mit ihrer natürlichen Autorität und ganzen Persönlichkeit behielt Frappart alles im Griff und war nach dem Schlusspfiff überhaupt kein Thema, und das ist oft das größte Kompliment für eine Schiedsrichterin oder einen Schiedsrichter.
Wer nach Optimierungspotenzial suchen möchte, dem fiel möglicherweise das phasenweise etwas übermotivierte Agieren der beiden Assistentinnen Neuza Back (Brasilien) und Karen Diaz Medina (Mexiko) auf. Aber auch wenn mal ein einziger Eckstoß nicht gesehen wurde, wie alle auf dem Sofa nach der dritten Zeitlupe erkannten – meine Güte, alles nicht spielentscheidend und Peanuts. Und wer bei einer WM und beim ersten Einsatz überhaupt nicht nervös ist, ist kein Mensch.
Stéphanie Frappart hat sich bereits seit Jahren im internationalen Herren-Fußball etabliert, ist anerkannt und respektiert. So leitete die 38-Jährige, die bereits in der fünften Saison in der ersten französischen Herren-Liga im Einsatz ist, am 14. August 2019 das Spiel um den UEFA-Super-Cup zwischen dem Champions-League-Gewinne FC Liverpool und Euroleague-Sieger FC Chelsea in Istanbul. Als erste Frau leitete sie am 2. Dezember 2020 eine Champions-League-Partie der Männer (Juventus Turin gegen Dynamo Kiew). Stéphanie Frappart hat in diesen und anderen Begegnungen längst bewiesen, dass sie es kann. Aber darum geht es nicht.
Die Partie Deutschland gegen Costa-Rica war das allererste Spiel auf diesem Planeten (und mutmaßlich auch darüber hinaus) während einer WM, bei dem eine Frau, ein ganzes Frauen-Team zum Einsatz kam. An dieser Stelle soll gar nicht weiter diskutiert werden, ob das im 21. Jahrhundert mal nicht überstürzt kam (das war jetzt ironisch) – dieser Aspekt wäre eine eigene Kolumne wert. Es geht darum, ob den FIFA-Verantwortlichen um Pierluigi Collina nicht bewusst gewesen sein musste, welcher internationale Fokus damit genau auf dieser brisanten Auseinandersetzung lag. Wenn es zu strittigen Entscheidungen (noch nicht einmal zu Fehlern) gekommen wäre, hätte das ganze Projekt Gleichberechtigung einen enormen Riss bekommen können.
Es geht gar nicht darum, Stéphanie Frappart diese Spielleitung nicht zuzutrauen. Eine professionelle, durchdachtere Ansetzung hätte indes für etwas weniger Druck gesorgt. WM-Premiere mit allen Kameras der Welt auf der Schiedsrichterin plus absoluter Endspiel-Charakter für beide Mannschaften, das war unglücklich, unverantwortlich, quasi ein Pokern. Viel besser wäre es gewesen, Stéphanie Frappart und die anderen nominierten Frauen gleich zu Beginn der Gruppenphase einzusetzen – in Spielen, in denen womöglich noch etwas vorsichtiger agiert wird. Auch dann wären Fokus und Kameras genug gewesen.
Zum Vergleich: Kein Schiedsrichter-Ansetzer und keine Schiedsrichter-Ansetzerin auf Kreis-, Bezirks- oder Verbandsebene nominiert (besser: verheizt) einen Neuling bei seinem ersten Spiel in einem brisanten Aufstiegs- oder Abstiegsderby. Im NFV-Kreis Heide-Wendland, im Bezirk Lüneburg, im Niedersächsischen und Norddeutschen Fußball-Verband wäre dies nicht denkbar.
FIFA-Referee-Chef Pierluigi Collina betonte und betont bei der Nominierung der Frauen den Leistungsaspekt – alles sehr korrekt und nachvollziehbar. Aber dann ist es sachlich und fachlich kaum zu begründen, warum die Ansetzung einer Top-Unparteiischen so lange dauerte und manche Männer bereits zum zweiten Mal nominiert wurden. So hätte Stéphanie Frappart, frühzeitig nominiert und mit ähnlicher Leistung, mit dem letzten Gruppenspiel der deutschen Mannschaft durchaus auch schon ihre zweite Spielleitung erhalten können – und dann wäre es normal(er) gewesen. Nach ihrer Leistung im Deutschland-Spiel hätte sich die Französin auf jeden Fall noch einen zweiten Einsatz verdient, mindestens.
» Marco Haase (51, SV Holdenstedt) ist seit 35 Jahren Fußball-Schiedsrichter und seit mehr als 20 Jahren als Schiedsrichter-Beobachter und -Coach bis in den DFB-Bereich aktiv, zudem im niedersächsischen Verbandsschiedsrichter-Lehrstab als Referent und Lehrgangsleiter an der NFV-Akademie in Barsinghausen. Der ehemalige AZ-Redakteur wird während der Fußball-WM anlassbezogen interessante Entscheidungen, strittige Pfiffe und regelkundliche Besonderheiten aufgreifen – dies im Übrigen nicht im Rahmen seiner offiziellen Funktionen, sondern sportredaktionell an dieser Stelle.