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„Es ist ein Albtraum“: Warum dieser Bürgermeister eine Waffe will

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Von: Lars Laue

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Marcel Litfin
Nach Morddrohungen will Marcel Litfin einen Waffenschein. © dpa

Seit 2016 ist Marcel Litfin Bürgermeister in Harsum. Doch was als Traubjob begann, ist zum Albtraum geworden. Denn Litfin wird mittlerweile von drei Männern bedroht. Um sich und seine Familie schützen zu können, kämpft er um einen Waffenschein – bisher vergeblich.

Harsum – Der Kindergarten heißt Pusteblume, das Café Engelke wirbt mit „Qualität aus der Region“ und im Salon Gisela lassen Damen und Herren sich ihre Haare schön machen. Das ist Harsum. Eine gemütliche Gemeinde südlich von Hannover im Landkreis Hildesheim. Knapp 12.000 Menschen leben in Harsum, etwa 5000 davon in der Kernortschaft. Dort steht auch das weiße Rathaus, erbaut 1803 im Fachwerk-Stil und heute Amtssitz von Marcel Litfin. Der 36-Jährige ist Harsumer durch und durch. Dort hat er seine Kindheit und Jugend verbracht und ist seit 2016 Bürgermeister. Stolz verweist der parteilose Rathauschef auf seine Wiederwahl im Jahr 2021 mit mehr als 87 Prozent.

Bereits seit 2003 ist Litfin bei „seiner“ Gemeinde beschäftigt. Hat es nach seiner Ausbildung zum Verwaltungsfachangestellten bis zum Bürgermeister gebracht. „Das war immer mein Traumjob“, sagt der groß gewachsene und sportlich aussehende Harsumer, der mit seiner Frau und seinen eineinhalb und dreieinhalbjährigen Töchtern sowie dem Familienhund unweit des Rathauses wohnt. „Mittlerweile ist es ein Albtraum“, sagt Litfin heute. Er will einen Waffenschein haben, um sich und seine Familie schützen zu können.

Handschriftliche Morddrohungen an Marcel Litfin

Der für einen Bürgermeister ungewöhnliche Wunsch nach einer Waffe liegt an Drohungen wie diesen: „Das wars. Litfin stirbt. Meine Mutter zu beerdigen, ohne dass ich dabei war. Tod. Freitag 9.00 stirbt er.“ So steht es handschriftlich auf einem Briefumschlag. Und wie zur Bestätigung, dass der Verfasser es ernst meint, liegt in dem Umschlag der Personalausweis des Drohenden – im Original.

Das wars. Litfin stirbt.

Nachricht auf Briefumschlag

Was war geschehen? Im Oktober 2021 hatte die Gemeinde die Mutter tot in ihrem Haus aufgefunden und den Sohn, der damals in einer Notunterkunft für Männer in Hildesheim lebte, kontaktiert. „Aber es gab von ihm keine Rückmeldung“, erinnert sich Bürgermeister Litfin. Schließlich gab es für die Frau ein Sozialbegräbnis und der Sohn (51), der mittlerweile in das Haus seiner verstorbenen Mutter eingezogen ist, macht dem Bürgermeister das Leben seither zur Hölle. Seine Wut gipfelte im Mai 2022 in der beschriebenen Morddrohung, die die Polizei durchaus ernst nahm und das Rathaus am genannten Freitag unter Schutz stellte. Zudem fuhr sie zu einer „Gefährderansprache“ zum Absender. „Der Mann lag damals besoffen im Bett“, sagt Litfin im Gespräch mit unserer Redaktion.

Bürgermeister von Harsum wird von drei Männern bedroht

Der Wille des Bürgermeisters, eine Waffe tragen zu dürfen – das Verwaltungsgericht Hannover hat die Ablehnung des Waffenschein-Antrages durch den Landkreis Hildesheim kürzlich in einem Urteil bestätigt – macht mittlerweile bundesweit Schlagzeilen. Fernsehteams fahren nach Harsum, und auch der „Spiegel“ war schon da und zitiert einen Berater des Bürgermeisters: „Harsum ist ein Zombie-Dorf, wenn abends die Glocken schlagen, kommen sie raus.“

Harsum ist ein Zombie-Dorf, wenn abends die Glocken schlagen, kommen sie raus.

Berater des Bürgermeisters

Sie? Mehrere „Zombies“? Ja, der gekränkte Sohn ist nicht der einzige „Aggressor“, wie Bürgermeister Litfin diejenigen nennt, die ihn bedrohen. Zwei sind laut Litfin nach wie vor aktiv, einer sitzt derzeit im Gefängnis, weil er den katholischen Gemeindepfarrer angegriffen und niedergeschlagen hat, als dieser am Pfarrhaus gerade mit der Gartenarbeit beschäftigt war. Im Haus des rechtsextremen Reichsbürgers fand die Polizei neben einer Einhand-Wurfaxt auch eine Streitaxt, eine Pistole und einen Angriffsspeer. „Der kommt im Juni wieder raus und hat dann 18 Monate abgesessen“, weiß der Bürgermeister – und fürchtet sich. Nicht ohne Grund: Er habe von dem 46-Jährigen über einen sozialen Messenger eine Drohung samt Totenkopf-Abbildung erhalten „und im April 2020 hatte er seinen Kampfhund auf mich gehetzt“.

Tägliche Briefe erreichen Bürgermeister Litfin

Der Dritte im Bunde ist unmittelbarer Rathaus-Nachbar und wurde im August vergangenen Jahres festgenommen, weil er verdächtigt wurde, zwei Gullydeckel auf die Autobahn 7 bei Harsum geworfen zu haben. Ein Autofahrer wurde damals schwer verletzt, seine Frau auf dem Beifahrersitz zog sich sogar lebensgefährliche Verletzungen zu. Nach knapp sechs Wochen Untersuchungshaft kam der Mann, der die Tat bestreitet, frei. Die Ermittlungen dauern an.

Im Januar erhob die Staatsanwaltschaft Hildesheim Anklage gegen ihn, weil er auch für zwei Bombendrohungen gegen das Justizzentrum und gegen den Betreuungsverein Hildesheim verantwortlich sein soll. „Von dem bekomme ich tägliche Briefe“, sagt Litfin und zeigt auf drei prall gefüllte Aktenordner. „Das ist nur die Post von ihm seit Jahresbeginn“, erklärt der Bürgermeister und fügt hinzu: „Der ist sehr nachtaktiv. Der Rekord liegt bei 20 Briefen in einer Nacht.“ Beispiele für die Inhalte: „Bei nächster Gelegenheit schlage ich Dir die Zähne aus. Ich beobachte Dich genau.“

Am 3. Juni vorigen Jahres hat er ihm im Rathausgarten am Zaun gedroht: „Ich hole jetzt den Vorschlaghammer und schlage Dir den Schädel ein.“ Der Bürgermeister, der gerade ein Paar standesamtlich trauen wollte, brachte sich schnell in Sicherheit. Litfin zieht aus einer Mappe ein neuropsychiatrisches Gutachten, das dem 50-Jährigen eine „schwere paranoide Schizophrenie“ attestiert.

Litfin will kämpfen und nicht zurücktreten

Litfin hat auch schon Gelbe Säcke mit menschlichem Kot in seinem privaten Garten gefunden, und nachts werde immer mal wieder Müll in der eigentlich so schnuckeligen Gemeinde verteilt. „Es ist grauenvoll“, sagt der Rathauschef. Hat er schon mal an Rücktritt gedacht? „Das war zu Hause natürlich schon Thema“, gibt Marcel Litfin zu, will aber nicht aufgeben – zumindest noch nicht. „Ich habe eben auch eine Verpflichtung meinen Wählerinnen und Wählern gegenüber.“

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Deshalb will Litfin weiter um einen Waffenschein kämpfen und kündigt an, vor dem Oberverwaltungsgericht in Lüneburg Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover zu beantragen. Den Richterspruch aus Hannover, wonach Litfin nicht wesentlich mehr als die Allgemeinheit durch Angriffe auf Leib und Leben gefährdet ist und im Falle eines Falles schließlich die Polizei alarmieren könne, nennt der Bürgermeister eine „Farce“.

„Ich muss meine Familie schützen“

Bis die Polizei bei ihm sei, könne es schon zu spät sein, argumentiert der Kläger und verweist auf Fälle wie Reker und Lübcke. Henriette Reker, Oberbürgermeisterin von Köln, wurde 2015 während eines Wahlkampftermins auf einem Kölner Stadtteil-Wochenmarkt niedergestochen, der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke wurde 2019 vor seinem Haus ermordet. Darum will Litfin eine Waffe. „Ich muss meine Familie und mich doch schützen“, bekräftigt der Bürgermeister, der häufig hinter sich blickt, wenn er abends noch mit dem Hund geht.

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